2. Kapitel: Warum die Welt der Geschichte wichtiger geworden ist

Autor(in): 
Eva-Maria Fahmüller

Die These

Auffällig ist: Viele zeitgemäße Serien, genauso Filme erzählen von eindrucksvollen Welten, detailreich gestaltet und ausdrucksstark. Unsere Erwartungen an das Erzählen haben sich verändert. Dieses Kapitel erläutert, warum die Welt, also die räumliche Kategorie in den letzten 20 Jahren in Geschichten wichtiger geworden ist. Was hat die Digitalisierung, was haben Games, Transmedia und TikTok mit Welten in zeitgemäßen Serien zu tun? Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Erzählen von Welt und dem von Zeit? Es geht hier noch einmal um die Hintergründe – als Vorbereitung für die praktischen Tools zur Gestaltung einer Welt, die in weiteren Kapiteln folgen.

 

Am Anfang steht die Einheit der Geschichte

Egal ob in 25, 120, 440 oder noch viel mehr Minuten – woran erkennt das Publikum, dass ihm dabei jeweils eine Geschichte erzählt wird und es sich in einem kohärenten Zusammenhang bewegt? Und umgedreht und auf Stoffentwicklung gemünzt: Wie kann es gelingen, einzelne Elemente zu einer bewegenden und aussagekräftigen Einheit, zu einer Geschichte, zu einem wiedererkennbaren Format zu verknüpfen? Das ist für mich eine der Grundfragen der Dramaturgie.

 

Das Primat der Zeit

In fast allen Handbüchern zum Drehbuchschreiben, die ich in den letzten 20 Jahren gelesen habe, wird dafür der Ablauf in der Zeit bemüht. Handlungen werden gefasst durch ihren Verlauf von einem Anfang über die Mitte bis zu ihrem Ende. Es gibt Spannungsbögen, Entwicklungsbögen, Staffelbögen, vertikale Bögen und Horizontalen. Figuren kämpfen für etwas. Manche gehen auf Heldenreise. Hindernisse steigern sich im Verlauf der Handlung. Der Weg mündet am Ende in eine Auflösung, vielleicht eine Enthüllung entgegen jeder Erwartung. Die Elemente einer Geschichte sind sortiert in der erzählten Zeit. Entweder ist dabei die Handlung richtungsweisend (plot-driven) oder der besondere Charakter, der sich entwickelt (character-driven), oder beides geht Hand in Hand. Dem Zuschauer erschließt sich am Ende ein Sinn oder gerade die Sinnlosigkeit von allem.

Dabei spielen zwar immer auch Begriffe eine Rolle, die auf den erzählten Raum verweisen, so zum Beispiel „die erste Schwelle“, „die tiefste Höhle“ oder „die Arena“. Doch sind diese entweder nur eingestreut oder sie dienen als assoziative Anhängsel in einer grundsätzlich zeitbasierten Dramaturgie. Die Dominanz der Kategorie Zeit wirkt fast unverrückbar. Dabei haben sich Geschichten in der Praxis seit der Jahrtausendwende erkennbar verändert.

 

Schöne neue Serienwelt

Die längere und freiere Erzählzeit von Serien mit horizontalen Strängen erfordert ein epischeres Herangehen. Oft gibt es viele Nebenfiguren und -handlungen. Sie kreisen um eine Welt der Geschichte und beleuchten sie von verschiedenen Seiten. Die Welt hält die Serie zusammen, sie ist zum Teil des Markenkerns bei zahlreichen Projekten geworden.

Das zeigen die unterschiedlichsten Beispiele wie DER TATORTREINIGER (D 2011-2018), STRANGER THINGS (USA seit 2016), THE CROWN (GB seit 2016), aber auch BABYLON BERLIN (D seit 2017), ganz besonders CHERNOBYL (GB 2019), BEFOREIGNERS (NOR 2019 und 2021) UNORTHODOX (D 2020), SUQID GAME (KOR seit 2021), DIE DISCOUNTER (D seit 2021), THE BEAR: KING OF KITCHEN (USA 2022) oder 1899 (D 2022). Sie alle schöpfen ihren Inhalt ganz wesentlich aus den Welten, in denen sie spielen. Besonders deutlich wird dieses Prinzip in „The greatest programme ever produced for American television“ (Kevin Carey in The Guardian, 13.02.07). THE WIRE (USA 2002-2008) ist derweil ein Klassiker. 

 

Beispiel Serie – THE WIRE

THE WIRE handelt vom Kampf gegen den Drogenhandel in der amerikanischen Hafenstadt Baltimore. Zentrale Figur ist Detective James McNulty, der in eine Sonderkommission zur Drogenbekämpfung versetzt wird. Neben den Kolleg:innen seines Teams ist er eingebunden in eine Hierarchie oberer und unterer Dienstränge, vom Polizeipräsidenten bis zum V-Mann auf der Straße. Allerdings wird THE WIRE nicht nur als Ermittler-Serie erzählt. Genauso wichtig sind die Perspektiven von Drogenmafia, konkurrierenden Gangs, Klein-Dealern, Schmugglern, Drogenabhängigen, von Personen aus Justiz, Politik, Schule und Presse, die jeweils ihre eigenen Schauplätze in Baltimore haben.

Nicht nur die horizontal erzählten Stränge, auch jede der 5 Staffeln hat einen eigenen Schwerpunkt. In Staffel 1 wird die Einrichtung der Sonderkommission und das Netzwerk der Drogenmafia etabliert. Staffel 2 beleuchtet den Schmuggel durch die Arbeiter am Hafen. Staffel 3 vertieft den Kampf der städtischen Politik gegen den grassierenden Drogenmissbrauch. In Staffel 4 quittiert ein Ermittler aus McNultys Team den Polizeidienst und wird Lehrer. Mit ihm wird die Ohnmacht des Schulsystems angesichts drogenabhängiger Familien und Schüler erzählt. In Staffel 5 geht es um die Tageszeitung „Baltimore Sun“ und die Frage, wie Medien das Thema Drogen verarbeiten.

Umfassend reflektiert die Serie verschiedene Aspekte des Drogenhandels in Baltimore – als Suchtmittel genauso wie als Wirtschaftsfaktor. Baltimore dient als Beispiel für die zunehmende Verwahrlosung von Teilen der Bevölkerung in amerikanischen Großstädten. Die Figuren und Handlungen sind untrennbar damit verbunden. Sie dienen der Ausleuchtung der „Welt der Geschichte“ – nicht andersherum.

Starke Welten finden sich jedoch nicht nur in Serien. Sie sind per se stilbildend für Geschichten, die online vermarktet und/oder konsumiert werden.

 

Leben im medialen Multiversum

1. Stellen wir uns einen großen Bildschirm vor. Darauf ein gestalteter Spielraum mit Landschaft, Mauern, Wegen, mehrdimensional und perspektivisch dargestellt, abgegrenzt nach außen von der Wirklichkeit. Computerspiele bieten eine jeweils eigene Erlebniswelt mit einer eigenen Optik und Logik an. Games wie MINECRAFT oder GRAND THEFT AUTO werden maßgeblich von ihrer Welt geprägt.

2. Stellen wir uns eine Storyworld vor, erzählt in unterschiedlichen Medien in jeweils mehreren Episoden. Der Weg durch die verschiedenen Angebote eines transmedialen Universums geschieht nach eigenem Gutdünken und steht den User:innen frei.

frei nach Csongor Baranyai

Möglich ist beispielsweise, einzelne Geschichten aus der Buchreihe durch Social Media Content zu ergänzen. Vielleicht ist die TV-Serie für Person „gelb“ sowieso interessanter. Während Person „rot“ zwar auch mit einem Buch begonnen hat, dann aber gleich zu den Games in beliebiger Reihenfolge wechselt. Nichtsdestoweniger sind beide in derselben Welt unterwegs, erkennen die Marke in ganz unterschiedlichen Medien und würden sie ähnlich beschreiben.

 

Transmedia, ein alter Hut …

Längst sind wir umgeben von einer unendlichen Zahl kleinerer und größerer Story-Welten bis hin zu ganzen Universen, die sich über verschiedene Medien erstrecken. Dabei sind in der Kunst transmediale Formen, die verschiedene Sinne ansprechen und gattungsübergreifend wirken, nicht neu. Schon in der Antike wurden Mythen und religiöse Inhalte durch Dramen und Plastiken verbreitet, durch mündliche Überlieferung, genauso durch Bilder und Lieder. Odysseus – Schiffe – Mittelmeer – mit Troja, Inseln und Ufern – mit Gött:innen und Zauberer:innen – Riesen und Sirenen – unterliegen ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten und bilden zusammen eine vielfach und in allen Künsten reproduzierte Welt. Frühe multimediale Formen entstanden nach und nach durch den Impetus, den die jeweilige Überlieferung auslöste, durch die anwachsende Zahl einzelner Werke, ohne übergeordnetes Konzept.

Im 19. Jahrhundert engagierte sich besonders Richard Wagner für die Idee eines Gesamtkunstwerkes in Musik, Tanz, Drama und Bildender Kunst. Und um mit einem weiteren, besonders harten Zeitsprung anzuschließen: Seit KRIEG DER STERNE 1977 entwickelte sich STAR WARS nach und nach zum Universum schlechthin. (Vergleiche dazu: Iris Klara Horky, Transmedia Storytelling, Bachelorarbeit, 2014.)

 

… doch die Digitalisierung verändert alles

Erst mit der Digitalisierung in den 00er Jahren wurde es einfach und gängig, Welten gezielt zur Entwicklung von Inhalten zu nutzen und diese zeitgleich und vor allem global auf Internet-basierten Märkten zu platzieren. Dabei entsteht der Sog für den/die User:in gerade weil es die einzelne Welt ermöglicht, ganz in sie abzutauchen und vor allem: mehr oder weniger selbst aktiv zu sein und dabei die Realität zu vergessen. Es bilden sich parallele Lebensräume, die dem einzelnen neue Rollen und Verhaltensweisen ermöglichen und den Alltag überlagern. Nicht umsonst spricht Gundolf S. Freyermuth von einer Hyperimmersiven Wende, die durch die neuen Medien erst möglich geworden ist. (Vergleiche: Ders., Games, Game Design, Game Studies.)

 

Beispiel Transmedia – BIBI & TINA

Ein großes Transmedia-Beispiel aus deutscher Produktion ist die BIBI & TINA-Welt, angesiedelt rund um das Setting „Martinshof“ in einem vergnügten und turbulenten Erzählton. Zentrum des Ensembles bildet die Freundschaft zwischen der frechen Bibi Blocksberg, die hexen kann, und der um ein Jahr älteren Tina Martin. Bespielt werden auch Beziehungen zu anderen Figuren und zahlreichen Pferde-Charakteren. Die transmediale Ausbreitung von BIBI & TINA verdeutlicht eine Auflistung verschiedener Medien ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Hörbücher (D seit 1991 z.B. Folge 96 – REITEN VERBOTEN, D 2020)
  • bis 2022 fünf Kinofilme (B: Bettina Börgerding, R: Detlev Buck)
  • ausgekoppelte Soundtracks und Songs (z.B. ANDERS IST GUT, D 2022)
  • Lernmaterialien (z.B. KOCHEN UND BACKEN MIT DEN BESTEN FREUNDINNEN, D 2020)
  • Spiele (z.B. Puzzle PFERDEFREUNDSCHAFT, D 2020)
  • zahlreiche Merchandising-Produkte (z.B. BROTDOSE – BIBI & TINA – ROSA, 2021)
  • eine Zeichentrickserie (D 2004 bis 2017, 5 Staffeln, 54 Episoden)
  • Live-Shows, die durch deutsche Städte touren (seit 2017, in 2023: DIE VERHEXTE HITPARADE)
  • eine Live-action Amazon-Prime Serie (B: Bettina Börgerding, R: Detlev Buck, D 2020, 1 Staffel, 10 Episoden)

Die zumeist jungen Mädchen der Zielgruppe stellen sich selbstständig ihre Lieblings-Medien zusammen, nutzen synergetische Effekte zwischen verschiedenen Inhalten und tauschen sich aktiv darüber aus. Sie finden Produkte für ganz verschiedene Lebensbereiche. Das alles erhöht die Immersion. Sie können zudem in Nachbarwelten des Labels Kiddinx wie die BIBI BLOCKSBERG-Reihe switchen. Alles ist mit allem vernetzt. Weitere Geschichten sind möglich und vermarktbar. Es entsteht ein ganzes Universum. Doch unabhängig von der beeindruckenden Größe des Systems: Wichtig ist, dass alle Rezipient:innen die Strukturen der BIBI & TINA-Welt stets wiedererkennen und sie von anderen unterscheiden. Das macht BIBI & TINA zur Marke. Worldbuilding ist dabei der wesentliche Faktor.

(Bild: Presse Kiddinx)

Die große Frage

Die große Frage dieses Kapitels ist, ob und inwiefern sich mit der gängig gewordenen Rezeption von Transmedia und Games unsere Geschichten in den letzten 20 Jahren verändert haben und noch weiter verändern. Doch wie wäre das möglich? Schließlich gehen wir grundsätzlich davon aus, dass es universale Prinzipien für gutes Erzählen gibt.

 

Exkurs: Was ist Dramaturgie?

Die geläufige Film- und Fernsehdramaturgie hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur auf die Kategorie der Zeit konzentriert, um Geschichten zu dramatisieren. Sie wurde gleichzeitig von dem Bedürfnis geleitet, etwas Universales zu definieren und als obersten Maßstab zu behaupten. Nicht, dass es eine solche anthropologische Komponente nicht grundsätzlich geben mag. (Ein hervorragendes Buch dazu: Erzählende Affen von Samira El Ouassil und Friedemann Karig.) Doch können wir diese aus unserer eingeschränkten Perspektive heraus wirklich so genau erkennen, wie es zahlreiche Dramaturgien behaupten? Oder ahnen wir nur grob, um welche „Wahrheit“ das Erzählen kreist?

Es ist ein naheliegender Gedanke: Ist das Universale, das wir in der westlichen Welt für Filmgeschichten gerne behaupten, so wie es z.B. die Heldenreise tut, nicht stets aus einer bestimmten Kultur und einem bestimmten Zeitgeist heraus interpretiert und geprägt? Stets grätscht uns unser eigenes Welt- und Menschenbild in unsere Vorstellung von Dramaturgie hinein. (Auch Joseph Campbell hatte eine individuelle Biografie und war ein Kind seiner Zeit.) Wir sollten uns deshalb immer bewusst sein, dass sich unsere Perspektive verschieben kann. Angesichts eines globalen Paradigmenwechsels wie der Digitalisierung, wäre es fast schon unbedarft bei den dramaturgischen Vorstellungen aus den Handbüchern der „Old School“ aus den 90er und 00er Jahren stehenzubleiben.

Das bedeutet keineswegs, dass deren Inhalte falsch sind. Dem widersprechen zahlreiche Erfahrungswerte. Die dort zugrunde liegenden klassischen Erzählformen zeigen seit den Tragödien der alten Griechen erkennbar Wirkung bei vielen Zuschauer:innen. Doch gefasst in die Film- und TV-Einheitsdramaturgien der 90er und 00er Jahre bieten sie eine trügerische Sicherheit. Bestimmte Elemente – wie z.B. der erzählte Raum – werden ausgeblendet oder nur oberflächlich betrachtet. Da wir uns m.E. der „Wahrheit“ des Erzählens nur annähern, sie aber niemals endgültig greifen können, sollten wir im Sinne bestmöglicher Drehbücher also immer wieder unser Verständnis überprüfen und unser Knowhow entsprechend der Gegenwart erweitern. Das ist das Schöne an Stoffentwicklung: Lernen hört nie auf.

Die grundsätzlichen Überlegungen enden damit allerdings noch nicht. Leser:innen, die weniger gesellschaftstheoretisch interessiert sind, sollten den nächsten Punkt überspringen. Denn in Bezug auf erzählten Raum kommen wir nach diesem Exkurs über Dramaturgie fast von selbst zurück auf die oben gestellte große Frage: Hat sich unsere Vorstellung grundsätzlich verändert, weil wir im digitalen Multiversum so viel mit räumlichem Denken beschäftigt sind?

 

Gibt es einen Spatial turn?

Schon in den 60er Jahren hat sich Michel Foucault mit den Machtstrukturen gesellschaftlicher Räume befasst (Kliniken, Gefängnisse). Daran angedockt kam in den 90er Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften ein neuer Begriff auf: „Spatial turn“ (manchmal auch „Topological turn“). Demnach hat die Vorstellung des Raums in Kultur und Gesellschaft seit den 80er Jahren, insbesondere seit dem Fall der Mauer 1989 an Bedeutung gewonnen. Die Welt ist nicht mehr in Ost und West geteilt, sondern wird als Ganzes verstanden. Das Denken ist nicht mehr auf den einen, alles vernichtenden Atomkrieg in der Zukunft als zeitlicher Kategorie ausgerichtet. Stattdessen drehen sich gesellschaftliche Diskussionen jetzt vermehrt darum, wie Teilräume zusammenwirken, welche Entwicklungen zeitgleich stattfinden und wie sie sich verbreiten. Klimawandel, Flüchtlingsströme und Corona-Pandemie können nur global durch topografisches Denken erfasst werden. Der Raum ist dabei etwas, das sich gestalten lässt, das nicht nur durch seine Abmessungen definiert ist. Es geht genauso um seine Inhalte, deren Beziehungen, Funktionen und Bedeutungen.

Tomás Saraceno, Acqua alta – En Clave de Sol, Venedig 2019 bepsy / ShutterstockKatharina Grosse, It Wasn’t Us, Berlin 2020
1 Tomás Saraceno, Acqua alta – En Clave de Sol, Venedig 2019 (bepsy / Shutterstock) – 2 Katharina Grosse, It Wasn’t Us, Berlin 2020

Der Spatial turn zeigt sich auch in der Kunst. Vielfach wird die Trennung zwischen einem Bild oder Objekt, das im Museum an der Wand hängt, und der Betrachterin davor aufgehoben. Das Kunstwerk wird Bestandteil der Welt. Rezipienten sind eingeladen, es zu betreten.

Die fast allumfassende Verbreitung des Internets verstärkt das Denken in räumlichen Kategorien. Zwar scheint es auf den ersten Blick, als würde der Raum in der digitalen Welt keine Rolle mehr spielen. Menschen sind stets und überall von allen erreichbar. Sie treffen sich im Internet sofort, ohne erst die Welt zu durchqueren, Straßen zu bauen oder mit Flugzeugen Ozeane zu überfliegen. Doch wie bereits gezeigt: Gleichzeitig bilden sich im digitalen Multiversum über die Realität hinaus Parallelwelten mit topografischen Mustern: Menschen leben im global village, es gibt Datenautobahnen, bei Social Media entstehen Bubbles, das Leben findet auf Plattformen statt, Communities haben geschützte Zugänge. Das Internet vervielfältigt den Raum und lässt neue Welten entstehen. Nur mit Mapping ist es möglich, die jeweilige Vernetzung von Daten, Menschen und Inhalten zu denken.

In diesem Kontext stehen auch Transmedia und Games. Soweit, so interessant. Wichtig ist für uns am Ende aber vor allem, was das für unsere Vorstellung von Stoffentwicklung bedeutet.

 

Zurück zur „Welt in Serie“

Die technischen Entwicklungen gehen vor allem im Serienbereich mit Veränderungen in unserer Vorstellung Hand in Hand. On Demand-Dienste wie Netflix & Co, aber auch die Mediatheken sind nicht mehr so stark an Sendeschemata gebunden. Die Erzählzeit von Formaten und Episoden wird freier gehandhabt. Gleichzeitig ziehen sich mehrere Horizontalen über viele oder alle Folgen. Es gibt genug Zeit, um Charaktere differenzierter und ambivalenter zu erzählen. So entsteht ein multiperspektivisches, komplexes System, in dem die zahlreichen Figuren, ihre Plots und alles, was dazu gehört, miteinander verwoben sind.

Dabei setzen sich einzelne Charaktere mitunter viel direkter mit ihren Welten auseinander. Natürlich spielt die Kategorie der Zeit dabei nach wie vor eine Rolle. Jede Figur hat ihren eigenen Plot. Heldenreisen wie in THE QUEENS GAMBIT sind auch in Serien möglich. Doch sogar Beth, die Schachspielerin, ist eingesponnen in eine komplexe, vielteilige Welt mit besonderen Gesetzmäßigkeiten, die ihr Anerkennung und Halt immer wieder verweigern.

Der Stellenwert der inneren Entwicklung von Figuren hin zu einem „reiferen Selbst“ scheint grundsätzlich schwächer zu werden. Stattdessen arbeiten sie sich an gesellschaftlichen Panoramen ab. Oder sie beleuchten Historie aus einer neuen Perspektive. Manche werden in fantastische Settings mit zahlreichen Fallstricken geschickt. Andere werden in ihrem Leben von Untoten und deren mysteriösen Regeln bestimmt.

 

Was ist überhaupt eine Welt?

Das Fundament für alles, was in einer Welt passiert, liegt in der Vergangenheit. Jede Welt hat ihre Backstory. Und jede Welt zielt auf eine Zukunft. Das ist die Richtung, in die sie sich entwickeln könnte. Doch manifestiert sie sich stets in der Gegenwart der Geschichte. Die Welt der Geschichte besteht aus allen Elementen, die den erzählten Raum füllen.

  • Sie beinhaltet zunächst das, was zu eine bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig da ist und sich räumlich auf einer Art Landkarte oder einem Spielbrett verzeichnen und wahrnehmen lässt. Das geht vom Setting über die Gestaltung der Räume, über Technik und Natur, Grenzen und Teilwelten bis hin zu den Figuren.
  • Darüber hinaus besitzt sie eine Ebene der Interpretation und Imagination. Denn die Welt der Geschichte meint auch das, was Autor:innen im Subtext zum Ausdruck bringen und was sich das Publikum selbst erschließt. Das können die Beziehungen der Figuren sein, aber auch Traditionen und Rituale, Gesetze und Moral.
  • So entsteht eine bestimmte Atmosphäre. Die Welt steht in Bezug zu unserem Wissen über Erzähltraditionen. Es gehören Genre-Elemente, Narrative und Metaphern dazu.
  • In Teilen und als Ganzes verweist sie zudem immer auf die Außenwelt. In welcher Beziehung steht eine Geschichte zur Realität und welches Weltbild wird durch sie vermittelt?

 

Welten und Weltbilder

Beispielsweise lässt sich darüber streiten, ob der letzte BIBI & TINA-Film EINFACH ANDERS auf Diversity zielt, indem er auf kindgerechte und turbulente Art Akzeptanz und Selbstbewusstsein für jedwede Individualität vermittelt (hier zum Trailer, besonders deutlich wird dies im aktuellen Soundtrack ANDERS IST GUT). Oder ob er stattdessen eine klassistische Weltordnung zementiert, weil die Figur Graf Falko von Falkenstein vor einem Betrüger gerettet und in ihrem ererbten Hoch- und Kapitalstatus bestätigt wird. (Vergleiche dazu die Einschätzung des Filmkritikers Wolfgang M. Schmitt in Die Filmanalyse.)

Wichtig ist auch: In vielen Serien der letzten 20 Jahre wird ein Weltbild transportiert, das aufgrund seiner Komplexität eine Eigendynamik entwickelt, die nicht mehr kontrollierbar ist – wie z.B. in THE WIRE. Offenbar spiegeln diese Serien auch die Überforderung und Hilflosigkeit, die viele Menschen aktuell gegenüber einer nicht mehr überschaubaren Lebenswelt empfinden – geprägt durch Tech-Giganten, internationale Konzerne, globale Strukturen. Der Einzelne kämpft mit keinem oder nur geringem Erfolg gegen ein übermächtiges Welt-System an. (Vergleiche den Systemgedanken in Roland Zags Dimensionen filmischen Erzählens, dazu gleich mehr.)

 

Das Dilemma im digitalen Raum

Dabei geht es in der Realität vordergründig gar nicht unbedingt um den Kampf gegen das Undurchschaubare, sondern vielmehr darum, sich zu verlieren. Genau das macht Videoportale und Social Media-Plattformen aus. TikTok-Clips zeigen in Kurzzeit die verschiedensten Inhalte. Ein Algorithmus bestimmt, was den/die User:in vermeintlich interessiert. Bedeutung haben höchstens einzelne Bruchstücke. Ziel ist nicht ein wie auch immer erstellter Zusammenhang zwischen den Inhalten, sondern das Erlebnis der Fülle. Aufmerksamkeit wird ständig neu generiert. 2021 verbrachte der/die durchschnittliche Nutzer:in in Deutschland 20 bis 40 Minuten täglich auf der Plattform, Tendenz 2022: sehr stark gewachsen (Quelle: ard-media).

Zusammengehalten wird die TikTok-Welt für den/die User:in lediglich von den Bedingungen und Regeln der Plattform selbst, mit denen er/sie sich auskennt: dem Handy-Format der Clips, den Möglichkeiten zur visuellen Bearbeitung und zur musikalischen Synchronisation, den Internet-Challenges und Community-Regeln. Gleichzeitig steht TikTok wegen Verschwörungserzählungen, Fake-Profilen, Tracking von User:innen-Daten und als chinesischer Konzern wegen Einschränkung der Meinungsfreiheit z.B. bei LGBTQ+-Inhalten in der Kritik.

Die User:in befindet sich im Internet fast grundsätzlich in diesem Dilemma: zwischen Hingabe und Hilflosigkeit, zwischen der unbeschwerten Nutzung eines für ihn/sie lustvollen und sozial wichtigen neuen Lebensraums und dem Ausgeliefertsein an diesen. Das führt erneut zu dem Systemgedanken, den Roland Zag als Merkmal zeitgemäßer Geschichten beschreibt. Er geht über die Idee der einfachen Verschiebung von Dramaturgie einen Schritt hinaus, weil er in aktuellen Filmen und Serien eine ganz bestimmte Art von Welt, ein komplexes System, undurchschaubar und abstrakt, mit antagonistischem Potenzial erkennt.

Demgegenüber gehe ich grundsätzlich davon aus, dass die Welt jetzt und in näherer Zukunft unsere Vorstellung stärker bestimmt als zuvor, dass Geschichten zunehmend world-driven erzählt sind. Dabei hat das neue Raum-Verständnis noch mehr Auswirkungen auf das, was wir sehen und schreiben.

 

Die Zeit löst sich auf

Denn die Digitalisierung ist eng verbunden mit einer sich verändernden Wahrnehmung der Zeit. Die Menge an Information und Kommunikation hat durch das Internet in den letzten Jahren rapide zugenommen. Das führt zum Eindruck der Gleichzeitigkeit von Ereignissen. Wenn heute irgendwo eine süße Katze einen Handstand macht, bleibt das nicht unbedingt unbemerkt. Sobald jemand eine Aufnahme davon online stellt, erfährt die ganze Welt davon. Menschen andernorts können das Video zu jeder Zeit kommentieren und dazu berichten. Der Austausch darüber wird in vielen Jahren noch für jeden abrufbar sein.

Es geht bei der Wahrnehmung der Welt im digitalen Raum also nicht unbedingt um die Vorstellung, einen Prozess in der Zeit zu durchlaufen und erst am Ende bei einer Sinnfindung anzukommen. Wenn alles im selben Moment verfügbar ist, gibt es kein Abwarten mehr. Alles ist Gegenwart. Die User:innen sind stärker gefordert, selbst aus diesem unerschöpflichen Strom auszuwählen und sich ihren eigenen Zeitablauf zu gestalten. Um Orientierung zu erlangen ist vor allem wichtig, Inhalte zu verorten und ein erweitertes Bewusstsein für den digitalen Raum zu entwickeln.

Parallel zu den Sehgewohnheiten in einer digitalisierten Welt ist derweil auch in Filmen und Serien ein offenerer Umgang mit Zeit selbstverständlich geworden. Vor 20 Jahren waren Zeitsprünge durch Flashbacks und Flashforwards in TV-Serien und -Movies tatsächlich noch ein No-Go. Doch der SPREEWALDKRIMI hat als Vorreiter schon seit 2006 in Deutschland im ZDF auf bis zu 7 unterschiedlichen zeitlichen Levels im On und Off eine Geschichte erzählt (ZWISCHEN TOD UND LEBEN, D 2017, Episode 10). Populär gewordene Streaming-Serien wie THE AFFAIR (USA 2014-2019), THIS IS US (2016-2022), DARK (D 2017-2020) erzählen auf mehreren Zeitebenen. Inzwischen übernehmen auch ambitionierte TV-Movies aus deutscher Produktion dieses Musters wie z.B. RAMSTEIN – DAS DURCHSTOSSENE HERZ (D 2022). In zahlreichen TV-Mehrteilern wie ALTES LAND (D 2020) genauso wie in verschiedenen TATORT-Folgen blitzen zumindest regelmäßig Erinnerungsfetzen auf.

 

Am Schluss steht wieder die Einheit der Geschichte

Das führt zurück zur Ausgangsfrage. Insofern wir uns nicht dem Strom von TikTok-Videos hingeben setzen wir als Zuschauer:innnen die Elemente eines Films oder einer Serie in Beziehung und suchen nach deren Bedeutung. Um uns an eine Geschichte zu binden, ist deshalb grundsätzlich wichtig, dass Kohärenz möglich ist. Unabhängig von der jeweiligen Wirkung: Das Publikum braucht zunächst einmal genug Anhaltspunkte, um das Geschehen in der Vorstellung zu einem stimmigen Ganzen zu formen. Was hilft ihm dabei, den Zusammenhang zu erkennen, wenn Zeitsprünge dies erschweren? Wie kann es die Geschichte als Einheit verstehen, wenn die Chronologie das Geschehen nicht mehr dominiert?

Nicht nur durch die schlüssige Abfolge von Szenen in der Zeit, auch durch eine besonders gestaltete Welt kann Kohärenz entstehen. Die einzelnen Elemente im erzählten Raum können ein Spannungsfeld erzeugen, eine Aussage von verschiedenen Seiten beleuchten und/oder das Sachthema umreißen. Insofern die Welt einer Geschichte dramatisch aufgebaut ist, haben alle ihre Elemente eine Funktion für das Ganze. Sie bilden einen semantischen Raum und zielen gemeinsam auf eine Bedeutung. Im besten Fall transportieren sie als Erzählabsicht ein emotionales Thema, einen Sinn.

Das mehr oder weniger starke Aufbrechen der Chronologie in vielen Formaten in den letzten Jahren geht also oft einher mit einer Stärkung des erzählten Raums. Je mehr der zu einer Welt gestaltete Raum die Einheit einer Geschichte konstituiert, desto weniger wichtig erscheint im Gegenzug ihr linearer Ablauf in der Zeit. Oder noch einmal anders gesagt: Der klar definierte erzählte Raum in vielen Serien oder transmedialen Projekten ermöglicht erst ein freieres Spiel mit zeitlichen Versatzstücken.

Gleichwohl sind Überlegungen von einem Zusammenspiel der beiden Parameter Raum und Zeit in Geschichten nicht neu. Sie scheinen in der Film- und Fernsehdramaturgie nur über lange Zeit nicht allzu präsent gewesen zu sein.

 

Und noch ein alter Hut …

Eine größere Rolle spielte der Raum schon bei russischen Semiotikern in den 70er Jahren. Der Literaturwissenschaftler Michael Bachtin definiert in seiner 1975 in Moskau erschienenen Untersuchung Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman den Zusammenhang von Raum und Zeit als gleichwertige Kategorien. Dabei verändert sich der Raum – eine Art Landkarte mit symbolischem Gehalt – im Zusammenhang mit dem Zeitstrahl.

Demgegenüber ist für den Semiotiker Jurij Lotman allein die Raumgestaltung das ordnende Prinzip der Sprache und des Textes. (Vergleiche: Lotman, Jurij, Die Struktur literarischer Texte.) Über Bachtin hinaus liefert er eine genaue Beschreibung derselben: Im Rahmen von Sujets eröffnen Texte zwei komplementäre Teilräume, so gut versus böse oder Natur versus Zivilisation. Der/die Held:in ist in der Lage, die Grenze zwischen den Teilräumen ihrer Welt zu überwinden. Auf den Film übertragen bietet Lotmans Ansatz die Möglichkeit, die Welt der Geschichte in zwei gegensätzliche Pole zu unterteilen, die mit Bedeutung aufgeladen sind – so wie es in der dramaturgischen Praxis oft geschieht: zwischen der gewohnten Welt und dem Abenteuer, zwischen Hoch- und Tiefstatus oder den beiden Seiten eines moralischen Dilemmas. Sobald die Grenze durch den/die Held:in überschritten wird, entsteht Bewegung, also ein Ereignis in der Zeit.

 

… der viel zu lange im Schrank lag

In diesem Blog kann es allerdings nicht nur darum gehen, die literaturwissenschaftlichen Überlegungen Bachtins oder Lotmans in einer zeitgemäßen Erweiterung auf die Filmdramaturgie zu beziehen. Vielmehr können uns die verschiedensten Blicke über den Tellerrand bei der Entwicklung von Filmen und Serien anregen, so z.B. auch Handbücher und Theorien zum Worldbuilding aus dem Games- und Transmedia-Bereich. Hinzu kommen zahlreiche eigene Überlegungen. Denn bei meiner dramaturgischen Arbeit in den letzten Jahren habe ich vielfach die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, einen Stoff world-driven anzugehen und/oder ganz bewusst seine Welt auszuschöpfen. Das bedeutet, die Welt der Geschichte als gleichberechtigten Aspekt neben Plot und Figuren zu betrachten. 

Die Elemente der Welt stehen dabei gerade nicht in Konkurrenz zu ihrem Ablauf in der Zeit, d.h. zur inneren Entwicklung der Figuren und der äußeren Handlung. Jedes Drehbuch entsteht im allmählichen Zusammendenken von Figuren, Plot und Welt. Das Handeln der Figuren in der Zeit verändert die Welt und die Welt bestimmt ihr Handeln. An den Kreativen und dem Inhalt ihrer Geschichte hängt, welcher dieser Aspekte prägend ist und wann er während der Stoffentwicklung im Vordergrund steht. Doch kann es angesichts der hier beschriebenen Verschiebungen unserer Wahrnehmung und Vorstellung nur sinnvoll sein, Tools und Überlegungen zur Entwicklung von Welten zu nutzen und diese Arbeit noch stärker im Bewusstsein zu verankern.

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Der hier vollzogene Blick auf die Hintergründe des Welt-Denkens war vor allem theoretisch. Er führte zum Teil weit weg von der praktischen Stoffentwicklung. Doch allen Leserinnen und Lesern, die es bis hierhin geschafft haben, sei gesagt: In den meisten der folgenden Kapitel wird es konkret. Schon beim nächsten Mal steigen wir ein in die Gegenwart einer Welt der Geschichte.

Dann geht es um den Ausgangspunkt für jede Welt: Welche Tools und Überlegungen helfen bei der Suche nach einem möglichst passenden und anregenden Setting?