1. Kapitel: Die Vergangenheit der Welt

Autor(in): 
Eva-Maria Fahmüller

Die These

Ehe wir uns Film- und Serienwelten in ihrer Gegenwart ansehen, treten wir einen Schritt zurück. Denn die Kulturen, Figuren, Beziehungen und Milieus, von denen wir als Kreative erzählen oder die uns als Publikum erzählt werden, waren nicht auf einmal da. An welcher Stelle beginnt eine Geschichte? Was ist dem vorausgegangen? Jede Film- oder Serien-Welt hat ihre eigene, große Vorgeschichte. Sie ist das Fundament von allem, was ab der ersten Minute passiert. Ohne die Vergangenheit einer Film- oder Serienwelt zu verstehen, lässt sich auch die Gegenwart nicht präzise entwickeln oder nachvollziehen.

 

Nicht nur für Krimis, Geheimnis- oder Rätsel-Plots

Bei Welten mit Vergangenheit denken viele zuerst an Krimi-Strukturen. Denn hier ist die Vorgeschichte wesentlich: Welche Beziehung hatte das Opfer zu einem Verdächtigen? Wann ist es der Mörderin oder dem Mörder begegnet? Was ist damals passiert? Die Vergangenheit wird im Laufe der Handlung entschlüsselt. Doch auch andere Plot-Muster drehen sich um frühere Rätsel oder Geheimnisse. Zum Beispiel wenn im Rahmen eines Klassentreffens, einer Hochzeit oder eines Todesfalls eine Familie oder ein alter Freundeskreis seit langem wieder aufeinandertrifft. Verletzungen aus der gemeinsamen Kindheit oder Jugend kommen ans Licht (DAS FEST, THE UMBRELLA ACADEMY Staffel 1).

Das ist allerdings nur ein Vorgeschmack auf das Thema Vergangenheit. Sie spielt in allen Filmen und Serien – in realistischen, narrativ geprägten, in satirischen, romantisch überhöhten oder fantastischen Welten – eine mehr oder weniger tragende Rolle. Denkt an BAD BANKS, ARCANE oder FETT UND FETT, vielleicht auch an CASABLANCA, FACK JU GÖHTE oder BLOOD RED SKY. Autor:innen erzählen darin von einem bestimmten Stand der Technik, von einem gesellschaftlichen Status Quo oder einem akuten politischen Moment. Auch, wenn die Vorgeschichte nicht im Zentrum steht: Die Figuren, ihre Ziele und Aktionen wären nicht denkbar, ohne die Vergangenheit ihrer Welt

  • Die Finanzwelt in der Serie BAD BANKS mit ihrem unmenschlichen Turbokapitalismus wäre nicht konkret und plausibel, ohne ihre Entwicklung bis zum Stand der Serie mitzudenken.
  • Der Stadtstaat Piltover in der Fantasy-Serie ARCANE ist aufgrund vergangener Geschehnisse geteilt in einen fortschrittlichen reichen und einen rückständigen armen Stadtteil.
  • FACK JU GÖHTE karikiert auch einen bestimmten Stand des deutschen Bildungssystems.
  • THE CROWN trägt die ganze Geschichte des britischen Empires in sich.
  • Die Mini-Serie CHERNOBYL ist maßgeblich geprägt vom Eisernen Vorhang und den Strukturen, die sich in der Sowjetunion vor dem Reaktorunglück gebildet haben.
  • Die ganz private Situation von Hannes und Ralle an einer Endhaltestelle in Brandenburg in WARTEN AUF’N BUS wird erzählt vor dem Hintergrund von DDR-Geschichte und Nachwendezeit und mit Blick auf die Verödung ganzer Landstriche.
  • In zahlreichen Filmen und Serien kämpfen Frauen gegen patriarchale Strukturen, die sich lange vor der, oft selbst historischen Gegenwart der Geschichte, bis zu genau diesem Punkt entwickelt haben (von CHARITÉ bis THE QUEENS GAMBIT).

 

Mehr als nur die Backstorys der Figuren

Diese hier nur grob skizzierten Beispiele zeigen: Gemeint ist mit „Vergangenheit der Welt“ nicht nur, dass jede Figur eine eigene Backstory erhält. Denn individuell entwickelte Backstorys erzeugen nicht zwingend Kohärenz – gerade in horizontal, episch breit erzählten Serien. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Geschichte auseinanderfällt, wenn der Fokus immer wieder auf ganz unterschiedliche private lines rutscht.

Viel öfter geht es im zeitgemäßen Erzählen darum, dass es eine gemeinsame, übergreifende Backstory gibt. Sie hat mehr oder weniger alle Figuren und alle Elemente geprägt, wenn auch in jeweils unterschiedlicher Form. Verschiedene Traumata und Verletzungen sind entstanden. Die Vergangenheit dient als aufwändig und komplex entwickelter Hintergrund, der im besten Fall die einzelnen Elemente einer Geschichte verbindet. Wenn sie sich in allen Backstorys findet, wenn sie darin variiert, kann sie zum Urgrund einer Geschichte werden. Die einzelnen Teile wachsen auf allen Zeitebenen zu etwas Größerem zusammen. Die Welt wird als Einheit stiftend für die Geschichte genutzt.

Soviel zur Theorie. Switchen wir in die Praxis: Während der Stoffentwicklung geht es vornehmlich (und entsprechend der Drehbuchlehre) um Figuren und Handlung, während die Welt oft lange vage und unklar bleibt. Um sie konkreter zu fassen, kann es helfen, nicht nur ihre Gegenwart zu entwickeln, sondern parallel dazu ihre Vergangenheit zu erforschen. Es geht um die Suche nach Ereignissen, die nach wie vor prägend für alle zentralen Figuren in der Geschichte sind.

Insbesondere Fragen aus der Soziologie und Psychologie unterstützen den Prozess – je nachdem, ob es um Staaten, Städte oder Dörfer bis hin zu Freundschaften oder Familien geht: Wodurch könnte eine Stimmung des wirtschaftlichen oder kulturellen Hochstandes entstanden sein – oder des Abschwungs, vielleicht der Resignation? Welche Machtstrukturen haben sich warum entwickelt? Welche Auswirkungen könnten frühere Streitigkeiten, Gewalt oder Krieg mittel- und langfristig gehabt haben? Wie ist der Firnis der Zivilisation entstanden, der diese Gemeinschaft bis heute prägt?

 

Varianten zur Vergangenheit eines Krankenhauses

Die Entwicklung einer Welt mit Vergangenheit regt die Fantasie an. Machen wir ein kurzes Experiment. Als Beispiel soll die Entwicklung eines Medicals dienen. Ein Krankenhaus bildet das Setting und dient uns als Ausgangspunkt für eine zu entwickelnde Serien-Welt. „Krankenhaus“ in der Gegenwart – das wirkt erstmal beliebig und unkonkret. Wir glauben dennoch – oder vermutlich genau deshalb – sofort zu wissen, was das bedeutet.

Erst, wenn wir uns in die Historie von Krankenhäusern insgesamt hineindenken, entstehen genauere Vorstellungen, genauso, wenn wir überlegen, welche Krankenhäuser wir kennen und welche besondere Geschichte sie haben. Hier einige Varianten, die untereinander in keinem Zusammenhang stehen:

  1. Ein Krankenhaus wurde von einem katholischen Nonnenorden 1870 als Hospital für mittellose Menschen gegründet.
  2. In einem Krankenhaus wird seit 150 Jahren auch geforscht. Es wurden immer nur die besten Ärzt:innen angestellt.
  3. Ein Krankenhaus war Teil der Privatisierungswelle vor 20 Jahren. Seitdem muss es vor allem Profit abwerfen.
  4. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Keller eines Krankenhauses als Luftschutzraum für die Bevölkerung (oder als Labor für Menschenversuche) genutzt.
  5. Ein kleinstädtisches Krankenhaus war in den 60er Jahren neu und modern. Seitdem ist es nicht mehr saniert worden.

Aus jedem Vorschlag zur Vergangenheit lässt sich ein anderes Bild, eine andere Vorstellung von Welt bis hin zur Gegenwart entwickeln. Eine kurze Recherche zeigt Inspirationsquellen, die auf unterschiedliche Vergangenheiten verweisen.
 

Katholisches Klinikum Koblenz-MontabaurCharitéKlinikum Marburg (Nikanos)Ev. Diakonissenkrankenhaus Leipzig während des 2. Wk.Katharinen Hospital Willich Neubau 1963
1 Katholisches Klinikum Koblenz-Montabaur - 2 Charité Berlin - 3 Klinikum Marburg (Foto: Nikanos) - 4 Ev. Diakonissenkrankenhaus Leipzig 2. Wk - 5 Katharinenhospital Willich 1963

An diesen ersten, nicht ausgeführten Grundideen wird deutlich, inwiefern die Vorgeschichte außerdem anregend für die Entwicklung aktueller FIGUREN sein kann, von der Zusammenstellung des Ensembles bis hin zur individuellen Haltung – jeweils zu den verschieden nummerierten Varianten.

zu 1.: Die letzten drei alten Nonnen leben noch dort.
zu 2.: Die aktuellen Ärzt:innen stehen in einem harten Konkurrenzkampf und fühlen sich in der Tradition von Rudolf Virchow und Robert Koch.
zu 3.: Sparmaßnahmen im Pflegebereich führen zu gestressten, überforderten Mitarbeiter:innen.

Daraus lassen sich direkt PLOTIDEEN ableiten;

zu 3.: Die mangelnde Versorgung der Patient:innen führt zu einem schweren Behandlungsfehler.
zu 4.: Ein Mann versucht, die Geschichte seiner im Zweiten Weltkrieg verschwundenen Mutter aufzuklären.
zu 5.: Der Direktor des kleinstädtischen Krankenhauses versucht verzweifelt, die Schließung zu verhindern.

Das sind nur Einzelideen. Doch sie zeigen, inwiefern die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Welt kreatives Potenzial besitzt.

Dabei können auch weitere Details der WELT entstehen, die vorher noch nicht manifest waren. Im Krankenhaus z.B. zu 1. eine historische Kapelle, zu 3. etwas versteckt: ein luxuriöser, abgeschlossener Bereich für wohlhabende Patient:innen aus dem Ausland oder aber zu 5. ein heute gammeliger Eingangsbereich mit seit langem verwaistem Blumengeschäft und Friseur. Die Gegenwart einer Geschichte lässt sich Hand in Hand mit ihrer Vergangenheit reichhaltiger und konkreter gestalten. Assoziationsketten wachsen. Die Fantasie wird angeregt für alles Weitere.

Hier nochmal die ersten Ansätze in Tabellenform – natürlich lässt sich manches auch anders sortieren:

 

Historischer Ballast

Doch warum stoßen Überlegungen zur Vergangenheit der Welt so einfach Spielmöglichkeiten und Bewegungslinien für Figuren und Plots im Jetzt an? Weil durch die Welt und ihre Backstory sofort ein Kontext entsteht, mit dem eine Geschichte beginnt und zu dem sich die verschiedenen Figuren positionieren lassen. Die Figuren haben eine persönliche Haltung zu ihrem Umfeld. Wie stehen sie jetzt dazu, wie kommen sie zurecht? Welche Ziele könnten sich für sie ergeben z.B.

zu 1.: im Umfeld eines Nonnen-Hospitals.
zu 2.: aus dem gewachsenen Renommee einer berühmten Universitätsklinik.
zu 5.: nach langjähriger Mitarbeit in einem kleinstädtischen Krankenhaus, das geschlossen werden soll.

Sie starten in historisch gewachsenen Welten – zwischen dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, dem Kampf um Veränderung, zwischen Aufbruch oder Resignation. Die Auseinandersetzung, ihr Plot, findet dann in der Gegenwart, in der eigentlichen Geschichte statt. Dabei dient die jeweilige Welt als Klammer, die alles zuammenhält.

Doch Halt! Das alles gilt sicher für Stoffe, die an ein festes Setting gebunden sind. Gilt das auch für Held:innenreisen, für Fish-out-of-water-Plots und Abenteuerfilme? Darin betritt eine Figur staunend ein für sie fremdes Land. Sie nimmt uns mit, um Neuland zu erkunden. Der Gegensatz besteht jedoch nur scheinbar. Serien wie UNORTHODOX oder THE QUEENS GAMBIT sind ein gutes Beispiel dafür. Dramatik entsteht, wenn die Reise in eine neue Welt in direkter Korrelation zur Vergangenheit steht, wenn sie in großen Teilen in ihr Gegenteil verkehrt wird.

So ist z.B. das Waisenhaus, in dem Elizabeth „Beth“ Harmon, die Protagonistin von THE QUEENS GAMBIT (Netflix 2020), in den 50er Jahren aufwächst, mit seiner Enge, mit dem Zwang zu Anpassung und Unterwerfung das Gegenmodell zu ihrer späteren Befreiung als einzigem weiblichen Schachgenie in einer mondänen Umgebung. Zudem trägt Beth‘ alte Welt bereits den Kern des Neuen in sich. Im Keller des Waisenhauses, mit Hilfe des Hausmeisters Mr. Shaibel, erlernt sie als Kind heimlich das Schachspiel. Oben werden die Mädchen mit Tabletten sediert. Entrückt imaginiert Beth geniale Spielzüge. Später, in der Welt der internationalen Turniere, der exklusiven Mode und teuren Hotels wird genau das ihr Problem. Sie braucht die Trance zum Gewinnen und kämpft mit der Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten. Die Möglichkeiten aus der Vergangenheit sind en détail auf Beths‘ Held:innenreise abgestimmt.

Damit haben wir Beth' persönlichen Wechsel von einer Welt in die andere nachvollzogen. Für sie ist die Welt der Wettkämpfe neu. Doch auch das "Abenteuer Schach" hat seine eigene Geschichte. Es ist als Gegenmodell zum Waisenhaus so gebaut, dass es gerade für Beth die größtmöglichen Herausforderungen bereithält. Die junge Frau muss sich in einem eitlen Milieu behaupten, das seit Jahrhunderten fast ausschließlich Männern vorbehalten ist und dessen Rituale sie nicht kennt. Sie tritt ein in einen knallharten Wettkampf, am Ende gegen die Besten der Welt.

Und im Rückbezug auf unser Krankenhaus: Aus welcher Welt könnte eine neu eingestellte Chefärztin kommen, wie wurde sie vorab geprägt, um in welchem Krankenhaus auf die größtmöglichen äußeren, aber auch emotionalen Hindernisse zu treffen?

 

Die Vergangenheit als Träger des Grundkonflikts

Der Blick auf THE QUEENS GAMBIT führt zu einem weiteren Gedanken. Im bisherigen Verlauf des Textes haben wir ausprobiert und überlegt, wie die Vergangenheit einer Welt zu Inspirationen für die Gegenwart, auch für Figuren und Plots anregen kann. Doch die Vergangenheit einer Welt ist auch das ideale Vehikel für den Grundkonflikt: Gerade weil der historische Ballast der Welt die Figuren zur Auseinandersetzung zwingt.

Oft lassen sich die unterschiedlichen Charaktere in zwei Stoßrichtungen anordnen. (Vergleiche dazu Alexander Laubers Modell der geteilten Stadt im VeDRA-WENDEPUNKT #52.) Manche versuchen, die Vergangenheit für eine bessere Zukunft zu überwinden. Andere kämpfen dafür, die Errungenschaften der Vergangenheit zu bewahren. Beide Seiten stehen für gegensätzliche Pole in der Welt der Geschichte. Beide Pole verweisen gemeinsam auf eine tiefere Bedeutung. Es geht z.B. um ein einsames Genie versus Gemeinschaft, um Freiheit versus Verantwortung oder um Resignation versus Selbstermächtigung – oder um anderes. Im Gegensatzpaar einer Geschichte steckt ihr „universales“ oder „emotionales Thema“. Und im Idealfall tragen zentrale Figuren diese Zerrissenheit als inneren Konflikt, als Dilemma in sich.

 

Die traumatisierte Welt

Und noch ein Gedanke ist wichtig: Die Vergangenheit der Welt ist grundsätzlich vergleichbar mit der Backstory einer Figur – das hatten wir bereits. Nur ist sie viel, viel größer, weil auf eine ganze Geschichte bezogen. Doch lässt sie sich auch nutzen, um die Stärken und Schwächen der Welt einer Geschichte zu verstehen.

Denn manchmal hat die Welt ein Trauma. Dann nimmt die Geschichte Bezug auf frühere negative Geschehnisse wie Naturkatastrophen, Krieg, Armut oder Unterdrückung, ein System, in dem Missbrauch oder Diskriminierung herrschten. Die Gemeinschaft, die in ihr lebt, musste besondere Stärken entwickeln, um zu überleben oder einen Aufstieg einzuleiten. Das können – nur als Beispiel – Werte sein, die auf Durchhaltevermögen oder Leistung zielen. Aufseiten der Schwächen leidet dasselbe Gemeinwesen möglicherweise unter kollektiver Verdrängung oder emotionaler Kälte. Diese Stärken und Schwächen transportieren jeweils den Grundkonflikt, hier Pflichterfüllung versus Gefühl. (KUDAMM 56)

Doch auch die gegenteilige Variante sehen wir häufig: Vergangenheit bedeutet Leben in einem überwiegend positiven Standard. Der Plot selbst erzählt dann den Verfall als plötzlich einbrechende Katastrophe oder heraufziehende Krise. In ihrer Vorgeschichte kamen die Figuren zurecht, waren vielleicht gesund, anerkannt, sogar wohlhabend. Sie hatten Werte, die auf Stabilität zielten. Sie fühlten sich in diesem Rahmen sicher, haben sich angepasst, gingen in der Gemeinschaft auf. Vielleicht konnten sich die Figuren darin ausleben, spontan und emotional sein. Andererseits könnte eine solche Gesellschaft dann zu gedankenlos oder auf sich konzentriert sein, um eine aufkommende Krise zu erkennen und zu meistern. (BAD BANKS, CHERNOBYL, diverse Dystopien)

Manchmal wird die Vergangenheit als eigene Zeitebene miterzählt – in einem Strang der Aufstieg, im anderen der Fall. Und manchmal ist die Vergangenheit vielseitig, ohne dass eine klare positive oder negative Wertung intendiert ist (FETT UND FETT). Um das nach diesem theoretischen Anteasern einmal durchzuspielen, schauen wir uns den Grundriss einer hochgelobten Mini-Serie mit Emmy- und Golden Globe-Preisen an.

 

CHERNOBYL als Beispiel

Die Mini-Serie CHERNOBYL (HBO / Sky 2019) erzählt von einem Grundkonflikt zwischen Wissenschaft und Politik und darüber hinaus von einem Wertekonflikt zwischen Wahrheit und Lüge. Ausgangspunkt ist das Unglück im Atomreaktor Tschernobyl 1986. Die Haupthandlung beginnt mit dem Super-GAU. Der Wissenschaftler Valery Legasov und andere suchen nach den wahren Gründen für das Unglück. Legasov erkennt die Tragweite. Er will weitere Unfälle verhindern und die Welt über die Gefahrenlage informieren. Es stellt sich heraus, dass der GAU auch durch einen bis dato verheimlichten Konstruktionsfehler verursacht wurde und weitere Atomkraftwerke in der Sowjetunion betroffen sind.

Legasovs Gegenpol sind Figuren aus der sowjetischen Politkaste – in eine seit Jahrzehnten gewachsene Vertuschungs-Kultur eingebunden, eingeschworen auf das Ideal des glorreichen kommunistischen Staates. Darin gibt es keine Fehler. Es gibt nur die Möglichkeit, staatstreu zu bleiben, das heißt: lügen und die Gefahren des Super-GAUs verleugnen. Am Ende schafft es Legasov dennoch, dem Gericht die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erläutern. Er ringt mit sich und sagt die Wahrheit. Das bedeutet für ihn den vollständigen Ausschluss aus der Gemeinschaft. Mehr noch: Seine mutige Aussage hat offiziell nie stattgefunden, sie wird für immer vertuscht (so scheint es). In CHERNOBYL bleibt keine Figur außen vor. Alle haben ihre Vergangenheit im selben System. Denn, Achtung Spoiler: Das Publikum erfährt am Ende auch, dass Legasov, der heutige Verfechter der Wahrheit, früher selbst mitgespielt hat, dass er bis heute erpressbar ist. Vor dem GAU hat er die wissenschaftliche Konkurrenz zum eigenen Vorteil verleumdet.

An CHERNOBYL wird deutlich, inwiefern Welt, Figuren und Plots durch eine gemeinsame Vergangenheit geprägt sein können. Und inwiefern diese auf den Grundkonflikt einer ganzen Serie zugespitzt sein kann. Der wird gleich in der ersten Minute der Serie formuliert: „Wenn wir nur genug Lügen hören, erkennen wir die Wahrheit nicht mehr. Was bleibt uns noch, als sogar die Hoffnung auf Wahrheit aufzugeben (...).“

Die zentralen Figuren arbeiten sich in CHERNOBYL an einer gemeinsamen Vergangenheit ab. Bis dato haben sie einigermaßen gut im System gelebt. Der Super-GAU zu Beginn der Geschichte bedeutet die Implosion ihrer Welt. Dabei wirkt das politische System der Sowjetunion auf den ersten Blick schwach. Es ist nicht in der Lage, mit unvorhergesehenen Ereignissen umzugehen. Gleichzeitig ist das System allmächtig, weiß alles und ist überall. Letztlich ist es stark und stabil. Die Figuren leben in Angst. Sie sind hart im Nehmen und passen sich an die Verhältnisse an.

So ist CHERNOBYL ein gutes Beispiel, um den Bezug zum Grundkonflikt und die Entstehung von Stärken und Schwächen einer Welt zu verstehen. Doch natürlich ist es stets einfach, fertige Preisträger-Filme und -Serien zu analysieren. Deshalb springen wir noch einmal zurück zum Anfang dieses Textes, in die Stoffentwicklung, zum Krankenhaus.

 

Wo beginnt die Gegenwart?

Die Praxis zeigt, dass Vergangenheit und Gegenwart der Welt während der Stoffentwicklung zunächst häufig ineinanderfließen, dass sie nicht immer trennscharf sind (auch hier im Text). Der Zeitpunkt, an dem eine Geschichte beginnt, muss erst gefunden werden. Welche Phase soll sichtbar gemacht und im On erzählt werden? Vielleicht gibt es auch mehrere Zeitebenen – nacheinander oder parallel – oder es gibt kürzere Flashforwards oder Flashbacks.

Zu überlegen ist zumindest:

  • Worin besteht der Grundkonflikt einer Film- oder Serienidee?
  • In welcher erzählten Zeit lässt er sich idealiter austragen?
  • Was ist für seine Etablierung davor nötig?
  • An welchem Punkt auf der Zeitachse könnte also die Geschichte beginnen?

 

Das Beste zum Schluss

Dabei gilt es, Figuren und Plots, die innere Entwicklung und äußere Handlung nicht nur als dünnen Strahl oder roten Faden, sondern breiter zu denken, sie als komplexes System zu verstehen. (Vergleiche dazu den Systemgedanken in Roland Zags Dimensionen filmischen Erzählens.)

Das bedeutet in meiner Theorie, der Geschichte einen Erzählraum zu geben. Eine ganz eigene Landkarte muss jeweils erfunden und ausgefüllt werden. Und nicht nur das: Dazu passend, als Vergangenheit, existiert noch eine historische Landkarte davor. Die Welt auf mehreren Zeitebenen zu sehen und ihre Entwicklung mitzudenken bedeutet wiederum, die Welt in die Kategorie der Zeit einzuordnen. So hängen die beiden Parameter "Raum" und "Zeit" zusammen.

Um es noch einmal in der Praxis auf den Punkt zu bringen: Wer eine Geschichte über den Klimawandel bzw. Figuren im Klimawandel erzählen will, sollte verstehen, wie sie (oder deren Eltern) früher gelebt haben, welche Sehnsüchte und Ängste sie damals hatten, warum sie die Entwicklung hin zur Klimakrise nicht gesehen haben – warum einige sie immer noch nicht sehen. Warum andere in Dilemmata gefangen sind. Und warum manche jetzt erst recht und mit ganzer Kraft für die Zukunft kämpfen.
 


(Arristico / Shutterstock)

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Der Blick in die Vergangenheit, den wir hiermit durchlaufen haben, beleuchtet erst einen, den ersten von mehreren wesentlichen Aspekten zu einer faszinierenden und stimmigen Welt der Geschichte. Weitere findet ihr demnächst an dieser Stelle: aus der Gegenwart der Welt und über deren Zukunft, zum Setting, zu Grenzen, zu Teilwelten und Regeln.

Beim nächsten Mal: Warum die Welt der Geschichte vor allem für die zeitgemäße Serienentwicklung so wichtig geworden ist.

Eine Kurzform dieses Textes erscheint auch im aktuellen WENDEPUNKT #54 (Nov. 2022), dem Fachmagazin des Verbandes für Film- und Fernsehdramaturgie (VeDRA). Darin findet Ihr außerdem weitere spannende Artikel zum zeitgemäßen Erzählen von klugen Kolleginnen und Kollegen.

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Und für alle Leserinnen und Leser, die es bis hierhin geschafft und noch nicht genug von möglichen Krankenhaus-Hintergründen haben: Zu den genannten Beispielen habe ich weitere Recherche-Links zusammengestellt. Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf die Krankenhaus-Welten zurückkommen.